Vorwort von Pepe Danquart (2013)
Ich hatte noch das Rauschen der Karibik im Ohr, als ich vor einigen Jahren einen „Erinnerungsdrink“ bestellte, bei der Barmaid Beate, in der Victoriabar. Ich war gerade von der Karibikinsel Jamaica wieder gekommen und wollte den Geruch der Insel in einem Glas wiederbeleben, so jedenfalls lautete meine Bestellung. Den „Ranglum“, den sie mir daraufhin brachte, kannte ich bis dahin noch nicht, eine Kreation ihres Kollegen Goncalo. Serviert in einem Tumbler auf Eis, bekam ich einen Short-Drink, der im Grunde das Prinzip eines klassischen Sours variiert auf der Basis eines Dark Jamaican Rum, gesüßt mit einem tropischen Likör aus Barbedos (Falernum) abgeschmeckt mit der Säure von Limetten und einer kleinen Ahnung von Ingwer. Schon beim ersten Schluck hatte ich einen Flash: ich war zurück in Jamaica! Der Drink ist Jamaica! Es war ein ungestümer Angriff auf mein sensorisches Erinnerungsvermögen und schon beim zweiten Glas ging das Rauschen der Karibik in einen „Rausch der Sinne“ über, der dann nach einem (oder zwei) weiteren zur Trunkenheit überging, in einen im klassischen Sinne herrlichen Rausch. Ich dankte seufzend Baccus und Dionysos, dem römischen wie griechischen Gott des Rausches und der Trunkenheit und genoss das enthemmte Surfen in den Erinnerungsbildern meiner gerade gelebten Zeit in der karibischen See.
Ich empfand mich in diesem Zustand an einem heiligen, einen spirituellen Ort, bei dem Rausch erzeugende Substanzen nun mal eine wichtige Rolle spielen. In einer Bar. Nicht immer wird dieser Ort als ein heiliger Ort gesehen, ich jedoch empfand ihn in jenem Moment als einen solchen. Schon die Germanen sahen den Met, der zu den frühesten alkoholischen Getränken gehört, als Geschenk der Götter an. Und so tue ich es noch heute.
Geschichtlich spielte der „riuschen“, wie der Rausch im mittelhoch-deutschen im 16. Jahrhundert noch hieß, schon immer eine gewichtige Rolle bei Zeremonien oder spirituellen Ritualen. Auch Halluzinogene gibt es nicht erst seit Timothy Leary oder Aldous Huxley, die in den 60iger Jahren damit herumexperimentierten. Schon vor tausenden von Jahren ist die Verwendung des halluzinogenen Fliegenpilzes dokumentiert und Rituale, in denen der Urin eines Schamanen getrunken wurde, nachdem dieser Fliegenpilze konsumiert hatte. Im Europa der Antike und im Mittelalter galt exzessiver Rausch als völlig normal, geächtet jedoch bereits im 16. / 17. Jahrhundert, ab dem 19. Jahrhundert gar als krankhaft. Aber getrunken wurde immer.
Dennoch unterlag der Konsum von Rausch erzeugenden Substanzen immer einer gewissen Ritualisierung. Gegenseitige Unterstützung bei der Beschaffung (hier sei an die Prohibition in den USA erinnert, wo gemeinschaftliche Gesetzesbrechung zu wahren Orgien in Hinterzimmern an illegalen Orten führte), des gemeinsamen Konsums (das Herumreichen des Joints, das bei den Hippies sehr beliebt war) und auch das gemeinschaftliche Betrinken nahm über die Jahrhunderte rituelle Formen an. Oder war es nicht schon immer so? Man nennt das heute „Flatrate Trinken“ (allerdings ohne den spirituellen Aspekt), das in bestimmten Discotheken angeboten wird, um sehr junge Leute zu animieren, bis zum umfallen zu trinken. Diese Ritual führt manchmal auch zum Tod, wie wir wissen. Oder in den Acid House- und Techno Musik Tempeln, wo aufputschende Substanzen wie „Ecstasy“ oder andere amphetaminartige Substanzen den Konsumenten wach halten, damit er sich in Trance tanzen kann. Auch ne Art ritualisierte gemeinschaftlicher Enthemmung, die ich zuvor nur in den Filmen von Jean Rouch kannte, den Meister des ethnographischen Films. Speziell in seinem Film Les Maitres Fou von 1954, in dem er den Kultritus der Hauka beobachtete, einer damals weitverbreiteten Sekte in Westafrika, deren Teilnehmer in Trance von Geistern besessen werden.
Ich aber war an einem besonders kultivierten Ort mit meinem Rausch. An einem Ort, an dem auch Martin Kippenberger getrunken und Kunst produziert hätte, hätte es den Ort in seiner Berliner Zeit schon gegeben. An einem Ort, wo die Zeremonienmeister (Barkeeper) die Grundsubstanzen Rum, Gin, Whisky, Wodka, Tequila und Brandy zu wahrlichen Wundergetränken zaubern und sie Menschen offerieren, die sich auf dieses Zeremoniell des Mixens eingeschworen haben. Sie nennen das Ergebnis Cocktail, eine englisches Wort, das in der deutschen Wortübersetzung: der Schwanz des Hahnes, Hahnenschwanz bedeutet. Warum?
Darüber gibt es viele Mythen. Gemäß einer dieser vielen Erzählungen hat das meist alkoholische Mischgetränk seinen Namen den Hahnenkämpfen in Nordamerika zu verdanken. Nach beendetem Kampf hatte der Besitzer des Siegerhahnes das Recht, dem getöteten Hahn die bunten Schwanzfedern auszureißen. Beim anschließenden Umtrunk wurde diese Trophäe mit einem Drink – „on the Cock’s tail“ – begossen. Mir persönlich gefällt eine andere Variante dieser Legende jedoch besser: In einer Bar in den USA stand ein großer, hohler Hahn aus Keramik. Der Barkeeper schüttete alle übrig gebliebenen Getränke in den Hahn. Das hochprozentige Gemisch, das daraus entstand, wurde aus dem Schwanz des Hahns gezapft und zum Sonderpreis angeboten. Dies sprach sich schnell herum, und immer mehr Leute bestellten das Mixgetränk aus dem „cock tail“, dem Hahnenschwanz. Ich glaube, auch ich wäre der Versuchung erlegen, dieses Mixgetränk zu probieren, aber zurück in die Jetztzeit. In die Bar, in der ich noch immer „rauschig“ saß.
Meine Zeremonienmeisterin, Barmaid Beate, kannte ich aus vielen Gesprächen an dieser langen Theke. Ich wusste wie sie und ihre Kollegen wochen- ja monatelang in der nahe gelegene Staatsbibliothek nach den Ursprüngen ihrer Kreationen forschten, die etymologischen Hintergründe der Namen ihrer Drinks beleuchteten, nach Kuba oder Venezuela fuhren, um dort in der örtlichen Barszene Neues zu entdecken, Historisches auszugraben oder Rezepturen ihrer Cocktailkreationen mit den kubanischen Freunden hinter dem hohen Schanktisch einer Bar austauschten – gemeinsame Räusche inbegriffen. Natürlich.
Jahrelang bequatschte ich als beständig lästige „barfly“ die Belegschaft – vornehmlich Beate – dieses Wissen doch in ein Buch zu packen und allen zugänglich zu machen. Denn kaum jemand weiß mehr über die Hintergründe eines jeden Drinks, den sie dort mixen, wie eben sie. Oder wussten sie, geschätzte Leserin, dass Whisky im 18. Jahrhundert als Heilmittel gegen die Melancholie, der Verbesserung des Gedächtnisses und dem Hinauszögern des Alterungsprozesses jedem Landarzt geläufig war? Dass der schottischer Single Malt zu recht die Krone der Schöpfung für jeden Whiskytrinker darstellt, aber dass das Getränk aller Wahrscheinlichkeit nach und zum großen Ärger der Schotten in Irland erfunden wurde? Eher nicht. Und Sie, geschätzter Leser, wussten Sie, wie der Whiskey von Europa nach Amerika kam und warum George Washington während des Unabhängigkeitskrieges sich immer wieder persönlich um den Whiskeynachschub für seine Soldaten gekümmert hat? Das weiß sowieso kaum einer, warum Sie. Dass man den wahren Grund der russischen Revolution im „Wässerchen“, dem Vodka findet und wie es Magister Salernus 1167 schaffte, reinen Alkohol als entflammbaren Weingeist zu destillieren und dieses „acqua vitae“ von dem berühmten Arzt Salemus dann zur Behandlung der schlimmsten Geisel des Mittelalters, der Pest, eingesetzt wurde und was der Brandy mit dem Cognac und beide mit dem „acqua vitae“ zu tun haben – um all das und noch so viel mehr zur Historie der Alcoholica zu wissen, müssten sie sich in dieses Buch vertieft haben. Oder Beate fragen, wie ich es tat, in all den Stunden, an ihrem langen Tresen.
Dass ich als Hugenotte im Exil (meine Vorfahren mussten schon kurz nach der Bartholomäusnacht am 24. August 1572 Frankreich verlassen), eine besondere Beziehung zu Cognac habe, erfuhr ich allerdings auch erst aus diesem Buch. Als nämlich Heinrich II., der die Katholiken unterstützte, die Privilegien der Stadt Cognac während der Religionskriege strich, waren es die hugenottischen Bankiers, die die calvinistischen Traditionen der großen Familien und Händler im Cognac wie Hennessy, Martell oder Delamain unterstützten und damit die Erfolgsgeschichte des Weinbrands ermöglichten, die wir heute als Armanac oder Cognac in guten Momenten in unseren Gläsern wiederfinden.
An jenem „karibischen“ Abend mit „Ranglum“ zum abwinken versprach ich, wenn das Buch, über das wir schon Jahre reden, je entstehen sollte, woran ich selbst längst nicht mehr glaubte, werde ich das Vorwort schreiben. Beate und ihre Kollegen haben dies nicht vergessen und mich beim besoffenen Wort genommen. Voila, hier ist es.
Eurer Pepe Danquart