Wie Prof. Dr. Hans Joachim Lenger und ich über das Kino und den medientheoretischen Umgang mit Raum und Zeit Freunde wurden.

Wir lehrten beide an der Hochschule für bildende Künste (HFBK). Hans Joachim als Philosoph, ich als Film- und Medienkünstler. Jeder in seinem Schwerpunkt und Erkenntnisinteresse. Doch in den letzten Jahren hatten wir viele Seminare auch gemeinsam gestaltet, die mit Kino und Zeit, diversen Medientheorien, zuletzt mit Ungleichzeitigkeiten zu tun hatten. Am Anfang standen die Kinotheorien von Gilles Deleuze, festgehalten in den beiden Bänden Das Bewegungs- und Das Zeitbild.1 Dies war der Beginn einer gemeinsamen Auseinandersetzung über das Kino mit Studierenden über mehrere Semester hinweg im Studienschwerpunkt Film.

Ausgangslage war das Denken des französischen Philosophen, „dass der Film in sich schon ist. Die Seminarankündigung unseres Seminars, das wir ‚Das Denken des Films’ nannten lautete dann wie folgt. „Mit Henri Bergson entwirft Deleuze eine Genealogie von Bewegung und Zeit, die im Filmbild unmittelbar Ausdruck werden. Mit C. S. Peirce formuliert er eine Zeichenlehre, die aus dem Film unmittelbar hervorgeht. Damit hört ein „Denken des Films“ auf, über den Film nur nachzudenken oder dessen Theorie „von außen“ an ihn heranzutragen – in Begriffen nämlich, die nicht seine eigenen sind. Stattdessen wird der Film selbst zu einer Denkform, seine Geschichte zu deren Genealogie. Denn glaubte die Tradition, die Frage der Zeit von der Linearität der Bewegung abhängig machen zu können, so kehrt der Film diese Beziehung in der Mitte des 20. Jahrhunderts um: hier geht die Bewegung aus einer Zeitlichkeit hervor, deren Virtualität nicht mehr den Dispositionen von Raum und Bewegung entspringt, sondern eigener Logik gehorcht. Sie treten in der Ungleichzeitigkeit hervor, in der jede Gegenwart von ihrer eigenen Vergangenheit gezeichnet sein muss, um vergehen zu können. In Begriffen des Bewegungs- und Zeitbilds werden so die künstlerischen Probleme lesbar, denen sich der Film – diesseits seiner „Mainstream-Produktionen“ – auch heute zu stellen hat.“ In diesem Sinne sind Regisseure dann auch Philosophen, auch wenn sie nicht in Begriffen, sondern in Bild- und Tonfiguren denken. Das sah auch Hans Joachim so. Über das Seminar hinaus freundeten wir uns an.

Die „Bude“ war immer voll, die Diskussionen über die Semester hinweg angeregt, wir zeigte Filme und hörten Referate und verfielen alle gebannt den vertiefenden philosophischen Ausführungen von Hans Joachim. Er besorgte mir in seiner Nachbarschaft eine kleine Wohnung und wir verbrachten in der Eckkneipe „Zum Ritter Georg“, das zugleich auch sein Büro war, so manch’ verrauchte disputierende Nacht. In einer solchen Nacht beschlossen wir, nachdem das Seminar zu Gilles Deleuze beendet war, unsere gemeinsame Lehrtätigkeit fortzuführen. Diesmal zu Pier Paolo Pasolini, der ebenfalls eine eigene Kinotheorie entwickelt hatte, und zu dessen Reise im Jahre 1959 ich einen Film plante (dazu gleich mehr).

Wir nannten das Seminar ‚Kino machen heißt auf brennendes Papier schreiben’ und wir beschäftigten uns im Folgenden mit seinen Filmen, seinen Schriften und den journalistische Arbeiten. Pasolinis Denken kreiste um subtil faschistoiden Strukturen und destruktiven Mechanismen in autoritären Systemen innerhalb der italienischen Gesellschaft. Seine Radikalität im Denken, seine offen ausgetragene Homosexualität und sein antiklerikaler Nonkonformismus („Das Beste an der Religion ist, dass sie Ketzer schafft“) hat dieses katholische Land tief gespalten. Und genau dies war die Kernfrage des Seminars, die mich auch in der Vorbereitung meines Films umtrieb: wie aktuell ist sein Denken heute und wie beeinflusst dies unser Leben – nicht nur in Italien? Welche Bezüge hat Pasolinis Denken heute in einem Europa in der Krise, herausgefordert durch die Migration aus Afrika und den Krisenherden des mittleren Ostens? Welche Vermischungen all dieser Fragen ist im Tourismusthema enthalten und wie kommen diese im Film vor? Ich versuchte Hans Joachim meinen filmischen Ansatz klar zu machen, dass dies ein Dokumentarfilm wird, der nicht die Person Pier Paolo Pasolini zum Thema hat, sondern die angespannte politische Situation durch die Wirtschaftskrise im Land, die massive Migrationsbewegung, mit der sich die Halbinsel stellvertretend für Europa konfrontiert sieht und wie der Hedonismus am Beispiel des Massentourismus weltweit seinen Siegeszug fortsetzt. Dies alles mit Hilfe des analytischen Denkens von Pasolini konkret festgemacht an seiner Reise(route) von 1959. Der Leser fragt sich sicher, wie es zu dieser Reise kam?

„Die neue Form der Macht ist die Herrschaft von Konsum und Verschleiß, diesem letzten Ruin, diesem Ruin aller Ruine (Pasolini).“

1959 fährt Pier Paolo Pasolini in den Monaten Juni, Juli und August mit einem Fiat Millecento, der zu jener Zeit den Fiat 500 ablöste, die gesamte italienische Küste entlang, eine Reise von Ventimiglia bis Triest, 3600 Kilometer. Das Tagebuch dieser Reise ist ein Dokument dieser Jahre, jener Zeit des Wirtschaftsbooms in Deutschland und Italien, als die Deutschen nach Rimini und Jesolo in Scharen zogen, jene Zeit zwischen dem Ende der Traditionen (in Italien) und der aufziehenden Globalisierung. Jene 50/60iger Jahre zwischen Armut und Dolce Vita, zwischen gerade aufkommenden Massentourismus und der Massenflucht des Südens in den Norden.

Italien war damals in Bewegung geraten und erlebte Umwälzungen, die in anderen Ländern Europas Jahrhunderte gedauert haben. Die Menschen mussten sich neu orientieren. Die ersten Touristen aus Deutschland und der Schweiz kamen, tummelten sich auf den neu entstehenden Campingplätzen in Rimini und Jesolo, man lernte Deutsch und die Gäste nahmen die Plastikgondel aus Venedig mit nach Hause. „Ein neues Volk ausländischer Touristen und einheimischer Nachahmer erfand neue Riten, neue Tänze, neue Moden, neue Regeln des Zusammenseins und der Zelebrierung von Körpern“(Kammerer).

Das war die gesellschaftliche Ausgangslage, als die Zeitung Successo Pier Paolo Pasolini und den Fotografen Paolo Di Paolo beauftragte, eine Reportage zu schreiben, wie sich das Ferienverhalten der Italiener n den Sommermonaten an der Küste Italiens verändert hat.

Pasolini wusste damals noch nichts vom Internet und der Digitalisierung, aber er hatte bereits eine fundierte Ahnung, wohin die Reise gehen wird. Seine Schriften zum Terror des Konsumismus sind legendär und in den Freibeuterschriften festgehalten, seine Beobachtungen zum Verfall der Traditionen und des Individualismus durch die Gleichförmigkeit der Massen visionär.

„Jeder in Italien steht unter dem entwürdigenden Zwang, so zu sein wie die anderen: im Konsumieren, im Glücklichsein, im Freisein; denn das ist der Befehl, den er unbewußt empfangen hat und dem er gehorchen muß, will er sich nicht als Außenseiter fühlen. Nie zuvor war das Anderssein ein so schweres Vergehen wie in unserer Zeit der Toleranz.“ (Pasolini 1974)

Ich wollte diese Reise noch einmal machen, heute, ebenfalls mit einem Fiat Millecento, heute ein Oldtimer. Einen Dokumentarfilm über diese Reise drehen. Eine vergleichende Rekonstruktion. Einen Essayfilm über Pasolini, seinem Italien von damals, aber auch über das Italien von heute. Seine Reisebeobachtungen in einem Roadmovie filmisch festhalten, mit seinen Texten noch einmal diese Landschaften sehen, seine visionären Reflexionen über den Verfall archaisch-bäuerlichen Strukturen und den aufkommenden und heute zur Blüte gekommenen Massentourismus in Bilder fassen. Die Ent-Individualisierung der Menschen an der Küste Italiens mit Pasolinis Blick entdecken. Denn was in den Jahren zwischen 1959-1963 als kleines Pflänzchen begann, hat bis heute nicht aufgehört zu wachsen. Kein faschistischer Zentralismus hat das geschafft, was der Zentralismus der Konsumgesellschaft geschafft hat: hedonistische Gleichschaltung der Wünsche.

Bitterkeit und Melancholie. Die Kulturkritik.

Der vielleicht wichtigste Aspekt am Werk Pasolinis war, dass er Grundfragen über die Kulturproduktion, über die expressive Sprache und besonders über das kommunikative und gesellschaftliche Entwicklungsmodell schon Anfang der 60 er Jahre bewusst und radikal stellte. Und es spielt keine Rolle, dass er diese Kritik an der Moderne und an dem american way of life im Namen eines utopischen Ideals, einer fragwürdigen Suche nach einer ursprünglichen und mythisierten Geistesreinheit lieferte. Er wollte die junge Generation vor der Gefahr einer Verdinglichung und einer Modernisierung warnen, die nur zu einer Gleichmachung aller Werte, der Sprache und des Verhaltens führen könne. Seine Kritik an den Tendenzen der Modernisierung, die damals kaum aufspürbar waren, erwies sich im Lauf der Zeit als treffend und sehr richtig. Vielleicht mehr als man damals ahnte.

In mehreren starken allegorischen Bildern und mit einer drohenden Katastrophe im Hintergrund kündigte Pasolini Ereignisse an, welche dann wirklich geschehen sind, nicht, weil er wie schon gesagt mythische Eigenschaften hatte, sondern weil ihm seine Analyse der Industrialisierung der Moderne ermöglichte, eine Darstellung der epochalen Lage besser und genauer als die Fortschrittsschwärmer zu liefern. Die Gegenüberstellung zwischen Norden und Süden (zwischen Wohlstandsgesellschaft und der armen marktlosen Landwirtschaft) war von Pasolini schon damals als Hauptproblem bezeichnet worden während er gleichzeitig den Wohlstandsmythos radikal kritisierte.

„Was hat die Industrialisierung getan: sie hat ein Volk, die Arbeiter, die Niedrigsten aus ihren alten Traditionen herausgerissen, aus den besonderen, realen, konkreten Werten, und sie auf den Weg gebracht, Kleinbürger zu werden.“ (Pier Paolo Pasolini)

Die Kritik und Bestandsaufnahme an den Ergebnissen oder Auswüchsen der Moderne, die wir Fortschritt nennen, oder Digitalisierung der Welt oder Globalisierung oder Massentourismus oder ökologischer Kollaps der Welt sollte Gegenstand dieses Dokumentarfilms werden und war Gegenstand des Seminars und meines persönlichen Diskurses mit Hans Joachim. Es war ein Jugendtraum von ihm, selbst Filme zu machen, gestand er mir in einem bestimmten Moment. So diskutierten wir oft über eine Reise, die ein Filmen auf hohem Niveau möglich machen sollte.

Denn schnell ist heute ein Handy eingeschaltet und hält verwehende Momente fest, aber mehr als Notiz denn als filmisch ausformulierter Satz. Gemeint ist ein künstlerischer Zugriff, der sich der unmittelbaren Wirklichkeit des Augenblicks annähert. Die Recherche auf dieser Reise sollte gleichzeitig der filmische Akt sein, Kamera und Ton immer in Bereitschaft, und immer in einer Lebenshaltung, die es möglich macht, sofort zu filmen.

Denn wenn ein Ereignis, und sei es noch so klein, stattfindet – der Fischer, der sich bereit macht für seine nächtliche Ausfahrt zum Fischfang und von Touristen belagert fotografiert wird, das abendliche Leben der Jugend am Kai, die afrikanischen Flüchtlinge hinter dem Restaurant bei der Ruhepause vom Geschirrspülstress oder im Streit mit dem deutschen Touristen, der sie verscheuchen will – dann wollte ich darauf vorbereitet sein, es so aufnehmen, wie es sich gerade zeigt. Nicht erst am nächsten Tag, mit anderen Kleidern, einer anderen Stimmung und anderem Gemüt. Oft gibt es eben Dinge, die keinen Namen haben, um sie zu beschreiben – aber sie sind da und haben eine Unmittelbarkeit, die sie blitzen und strahlen lässt wie ein Juwel.

Kein Thema, das ich je behandelt habe, entsprach dem Bild, dass ich vorher davon hatte. Je mehr über die Welt berichtet wird, je entfernter schaut sie zurück. Das hat Alexander Kluge in abgewandelter Form schon erkannt und ich wollte mit diesem Film ausloten, wie präzise man sich einer Wirklichkeit nähert, die vor 60 Jahren bereits erahnt und beschrieben wurde. Wie das damals Zukünftige heute Gegenwart geworden ist und im Vergleich mit dem Vergangenen einen anderen Blick auf die Welt gestattet.

Natürlich kann die Reise dann auch zu Widersprüchen führen und Pasolinis Sicht der Dinge widersprechen, kann Dinge finden, wo seine Sicht überholt ist. So zum Beispiel seine Naturbeschreibungen an spezifischem Ort, wenn Hotelkomplexe den Blick verstellen und ein ganzes Dorf seinen Arbeitsplatz dort gefunden hat und dabei die Fischerei und andere Handwerksberufe obsolet geworden, verschwunden sind - aber keine Not und keine Armut mehr herrscht.

Oder der romantische Blick, den Pasolini auf die Küstenlandschaften und das Meer wirft, dieser Blick, der sich so heute nicht mehr wiederholen lässt und zwar gerade wegen der globalen politischen Situation. Das Meer ist heute nicht mehr nur das Bild, was in seiner endlosen Weite, die Sehnsucht der Touristen erfüllt, sondern auch Seeweg von Flüchtlingen, die nach Europa gelangen wollen. Die Richtung der Sehnsucht hat sich verkehrt.

Das Meer hat sich als Bild politisiert. Der Blick darauf hat sich im Laufe der Zeit verändert, ist aber im Ergebnis auch eine Konsequenz aus dem, was Pasolini als Voraussetzung beschrieben hat. „Vor mir der Süden“ so der Titel des geplanten Films, sollte im Ergebnis ausloten, wie offen man sich der Wirklichkeit annähern kann.

Das war die Ausgangslage unserer Gespräche in langen Nächten. Film braucht Geld um ihn überhaupt zu beginnen – ein wesentlicher Unterschied zu anderen Künsten wie die Malerei – und so schrieb ich ein Exposé, ein Treatment, Begründungen der Dringlichkeit, der Weltlage, der persönlichen Involviertheit, machte Finanzierungspläne, sprach mit Förderer und Förderinnen, klapperte die Fernsehstationen und ihre Redakteurinnen ab – und Hans Joachim betrachtete diese weltlichen Bemühungen mit einer Mischung aus Neugier, Distanz und Verwunderung. Konnte er doch schreiben, wann immer er wollte, wann immer er einen Begriff zu fassen suchte, er die Notwendigkeit des Schreibens für sich gegeben sah.

An einem bestimmten Punkt der Finanzierung, an dem wie so oft lang gehegte Pläne scheitern können durch ablehnende Förderbescheide, fragte ich Hans Joachim, ob er nicht einen Text unseres langen Diskurses über Pasolini und dem konkreten Vorhaben des Films schreiben wolle. Ein Konzentrat unserer intensiven Auseinandersetzung – als prosaischer „sidekick“ mit philosophischem Grundton. Er zögerte keinen Moment und innerhalb kürzester Zeit schrieb er den nun folgenden Text, den ich zusammen mit meinen eigenen Ausführungen der Filmförderung vorlegte. Ich bekam das Geld und begann im Sommer 2018 den Film zu drehen und im folgenden Jahr zu schneiden. Hans Joachim, der auf so unglücklicher Weise verhinderte Filmemacher wäre so gerne in den Schneideraum gekommen. Wir wollten dort unsere Diskussionen am konkreten Material fortsetzen, das filmische Ergebnis an unseren Diskurs-Erkenntnissen messen, praktisch werden lassen was wir so oft theoretisch erörtert haben. Es kam aus bekannten Gründen nie dazu.

Offene Augen, weiter Blick, genaue Bilder, schrieb Michael Glawogger einmal in eines seiner Treatments. Er starb vor einigen Jahren auf einer seiner filmischen Reisen in Burkina Faso an Malaria. Viel zu früh und genauso überraschend wie Hans Joachim Lenger, der den fertigen Film über Pasolinis aktuelles Italien nie sehen konnte.


  1. 1) In der Filmphilosophie von Gilles Deleuze ist das Zeit-Bild das filmische Bild vor allem ab der Krise des klassischen Erzählkinos in der Nachkriegszeit. Die Filme von Ozu, Welles und der Nouvelle Vague sind Ausdruck einer direkten Erkundung der Zeit, ohne wie zuvor auf die Bewegung zurückzugreifen (auf die Darstellungsform des von Deleuze sogenannten Bewegungs-Bildes). Die Klassifizierung verschiedener Formen des Zeit-Bilds ist weniger offensichtlich als beim Bewegungs-Bild. Wesentlich ist für das Zeit-Bild das „Kristallbild“ im Sinn einer Verbindung aus aktuellem und virtuellem Bild. Die Gegenwart ist nicht die einzige Zeitebene und ist daher auch nicht gemäß einer Chronologie wiedergegeben. ↩︎