Herzog bekundet nicht nur kein Interesse an wörtlicher Wahrheit, er verachtet sie. Cinéma vérité, die Kunst, eine enteilende Wahrheit mit der Handkamera einzufangen, fertigt er als „Buchhalterwahrheit“ ab. Das Gegenteil von „Buchhalterwahrheit“ ist für Herzog „ekstatische Wahrheit“, denn einzig durch Erfindung und Erdichtung und Inszenierung ist eine intensivere Ebene von Wahrheit zu erreichen, die anders nicht zu finden wäre». Das gelingt ihm als kinematografischem Betörer derart, dass seine Dokumentarfilme sogar als Fiktionen funktionieren. Aber er benutzt die Erfindung nicht, um Wahrheit zu verfälschen, sondern um sie zu schärfen, zu erhöhen, lebendiger zu machen. Zu seinen bevorzugten Methoden gehört es, für seine Charaktere Träume oder Visionen zu erfinden, die sie nie hatten, die aber trotzdem wahr klingen, weil sie den Charakteren entsprechen. Und in gewisser Weise sind die Hauptfiguren in seinen Filmen, ob Spiel- oder Dokumentarfilm, alle Variationen von Herzog selber. Dies werden wir anhand seiner zahlreichen Dokumentarfilme, die er bis heute gedreht hat, analysieren und in Synthese zum „Direct Cinema“ diskutieren.
Danquart/Schoch
Die Dokumentarfilmwoche Hamburg zeigt seit 2004 internationale Dokumentarfilme, ohne den Blick auch auf die kleinen regionalen Produktionen zu verlieren. Darüber hinaus werden jedes Jahr bewusst auch Filme ausgewählt, die ohne Fördermittel und Fernsehsender entstehen. Einfache Camcorderfilme, aber ebenso Dokumentarfilm-Klassiker in einer Retrospektive über Gisela Tuchtenhagen.